Jochen Lempert

Schwein, Schweine
  • Ohne Titel, 2023, Silbergelatineabzug auf Barytpapier, 5,5 × 9 cm
  • Schwein, Schweine, IV, 2023, Silbergelatineabzug auf Barytpapier, 27 × 37 cm
  • Schwein, Schweine, III, 2023, Silbergelatineabzug auf Barytpapier, 20,5 × 29 cm
  • Schwein, 2010/2023, Silbergelatineabzug auf Barytpapier, 38 × 49 cm
  • Wimper, 2021, Silbergelatineabzug auf Barytpapier, 19,5 × 15 cm

Jochen Lempert, von Haus aus Biologe, sucht den Blick der Schweine. Der Fotograf arbeitet mit analogen Schwarz-Weiß-Verfahren und verzichtet auf Rahmen: Diese Bilder muten organisch, tastbar, fühlbar an – als wären sie fragile Häute des Sichtbaren, zugehörig den Kreisläufen, von denen sie berichten. Und tatsächlich sorgt die aus Schweineknochen gewonnene Gelatine für die Einbindung des lichtempfindlichen Silbers auf den mal grobkörnigen, mal feinst grau nuancierten Fotopapieren.

Die zeitlichen Parallelen zwischen der Entwicklung der Fotografie als Massenmedium und jenem Zivilisationsbruch, in dessen Folge das Schwein auf seinen Status als Ware reduziert wird, zwischen der erstmaligen maschinellen Produktion von Gelatinepapieren für die Fotografie 1884 und der Errichtung des ersten Hochhauses in Chicago im weltweiten Zentrum der Schweineindustrie 1885¹ ist nicht zu übersehen. Der Historiker Sigfried Giedion wies zudem darauf hin, dass die Fließbandproduktion von Automobilen in den Werken von Henry Ford (1915) auf Vorentwicklungen in der Zwiebackproduktion, dann des Schlachthausbetriebes zurückging:² vom Brot zum Fleisch zum Auto. Revolutionäre Aufstände entzünden sich noch bis zum Ende des 19. Jahrhunderts am Mangel an Brot. Im frühen 20. Jahrhundert ist es dann häufig Fleisch, um das es geht.

Der Philosoph Jacques Derrida dachte einst darüber nach, warum er, nackt in seinem Badezimmer, Scham vor dem Blick seiner Katze empfinde.³ Was empfinden wir, wenn wir einem Schwein in die Augen schauen? Schweine schauen, so heißt es, nie nach oben: Vermutlich erwarten sie von dort nichts Gutes. Leben Schweine so wie die von Jochen Lempert fotografierten auf der Weide, haben sie den »treuen« Hundeblick nicht nötig. Da diese Tiere ihre Nahrung in der Erde suchen, gelten sie als »schmutzig«. In einem Wertesystem, in dem »Reinheit« in geradezu erschütternder Weise vielfach positiv besetzt ist, haben Schweine wirklich schlechte Karten. Doch ist neuerdings die Rede von sogenannten Superschweinen. Diese wild lebenden Tiere, hervorgegangen aus einer vom Menschen geschaffenen Kreuzung von Wild- und Hausschweinen, seien außerordentlich intelligent und rücksichtslos. An der Grenze zwischen Kanada und den USA werden sie daher als große Bedrohung, als ein Risiko für die menschliche Gesundheit und Sicherheit wahrgenommen.⁴

Vielleicht erfüllt sich hier auf besondere Weise, wovon Fahim Amir in Schwein und Zeit erzählt: Die Tiere wehren sich. Vielleicht sollten wir ihnen, und den Rindern und Hühnern und anderen Nutztieren, tatsächlich öfter in die Augen schauen – nicht nur den Hunden, Katzen und Pferden.

Und ja, Schweine sind nicht die einzigen Tiere, die unsichtbar geworden sind, und es geht letztendlich nicht in erster Linie um sogenannte Nutztiere.

Denn SCHWEINEBEWUSSTSEIN meint eben nicht allein das Bewusstsein von bzw. der einen einzelnen Spezies. SCHWEINEBEWUSSTSEIN meint ein Bewusstsein von den komplexen Zusammenhängen des Seins auf diesem Planeten: Zusammenhängen zwischen allem, was da ist. Und von was handelt Kunst, wenn nicht vom In-der-Welt-Sein.

¹ Das Home Insurance Building von 1885 gilt als erstes Hochhaus der Welt.

² Sigfried Giedion, Die Herrschaft der Mechanisierung, Frankfurt am Main 1982, S. 102, 140 f.

³ Jacques Derrida, Das Tier, das ich also bin, Wien 2010, S. 20f.

⁴ »›Incredibly intelligent, highly elusive‹: US faces new threat from Canadian ›super pig‹«, in: The Guardian, 20.2.2023, https://www.theguardian.com/usnews/2023/feb/20/us-threat-canada-super-pig-boar (Zugriff: 10.4.2023).

Biografie

*1958, Moers; lebt in Hamburg

• 1980–1988 Studium der Biologie an der Friedrich-Wilhelm-Universität, Bonn • 1978–1989 Mitglied der Experimentalfilmgruppe Schmelzdahin

A 2023 Lingering Sensations, C/O Berlin (E) • 2022 Portikus, Frankfurt am Main (E); Centre Pompidou, Paris (E); Natural sources, Huis Marseille, Amsterdam (E); Fata Morgana, Jeu de Paume, Paris • 2021 Visible Light, ProjecteSD, Barcelona (E) • 2020 Jardin d’Hiver, Centre d’art contemporain, Ivry-sur-Seine (E); Fenotipas, Contemporary Art Centre, Vilnius (E) • 2019 Fotos an Büchern, Camera Austria, Graz (E) • 2018 Sudden Spring, Bildmuseet, Umeå (E); Centro de Arte Dos de Mayo, Madrid (E); Plant Volatiles, Kunst Haus Wien (E) • 2017 Honeyguides, Sprengel Museum, Hannover (E)

P Paare/Pairs, Amsterdam 2022 • The Skins of Alca Impennis, Hannover 2017 • Plant Volatiles, Berlin 2016 • Composition, Köln 2014 • 4 frogs, Marseille 2010 • Recent Field Work, Köln 2009 • White Light, Tokyo 2008 • 6CO2+12H2O= C6H12O6+6H2O+6O2, Köln 2007 • Coevolution, Köln 2006 • Physiognomische Versuche, Köln 2002 • 365 Tafeln zur Naturgeschichte, Bonn/Freiburg (Breisgau) 1997