Vorbildliche Wildsäue

Essay von
Fahim Amir
Als der Gegenwartsdiagnostiker Theodor W. Adorno einmal darum gebeten wurde, über ästhetische Normen und Leitbilder der 
Gegenwart zu sprechen, wies er dieses Ansinnen zurück: Das Wort »Leitbild« dürfte mit seiner kommandohaften Tonalität eine 
deutsche Nachkriegserscheinung sein und gehöre darüber hinaus zu konservativer Kulturkritik. Grundsätzlich könne er eine solche 
Frage nur fragmentarisch und außerdem nur als Problem erörtern.

Der für das kulturelle Bewusstsein der Bundesrepublik über seinen Tod hinaus wichtige Philosoph und Soziologe wäre heuer 120 Jahre alt geworden. Auch Adorno ist einmal ein Kind gewesen und blickt in seiner Schrift Parva aesthetica (1967) auf einen Sommer seiner Kindheit zurück und erinnert sich an eine Begebenheit, die wie ein kauziger Eintrag in einem alten Witzblatt wirkt: In Ernsttal war einst eine Respektsperson, die Gattin des Eisenbahnpräsidenten, in einem knallroten Sommerkleid erschienen. Eine gezähmte Wildsau aus Ernsttal hatte daraufhin ihre Zahmheit vergessen, die laut schreiende Dame auf den Rücken genommen und war davongerast. Hätte er ein Leitbild, so wäre es jenes Tier, resümiert Adorno.

Schweine hatten ihn bereits in seinen, gemeinsam mit Max Horkheimer verfassten, philosophischen Fragmenten mit dem Titel Dialektik der Aufklärung (1947) beschäftigt. Hier kommt die Rede nämlich auf Homers Erzählung von den Irrfahrten des Odysseus und seiner Begegnung mit der Zauberin Kirke. Nach der Bewältigung gefahrvoller Zwischenstopps bei Lotusesser:innen und dem einäugigen Riesen Polyphem sind Odysseus und seine Gefährten schließlich auf der Insel der Kirke gelandet. Hier erliegt Odysseus’ Truppe Kirkes Reizen, kostet von dargereichtem Speis und Trank – und verwandelt sich prompt in Schweine.

Zum Schwein zu werden heißt in der Lektüre der kritischen Theoretiker zunächst, sich gänzlich einem als animalisch verstandenen Begehren zu ergeben. Die Gefahr bestehe nicht im Verlust des Lebens, wie bei anderen Abenteuern, sondern im Verlust der Autonomie. Kein Schwein zu werden bedürfe hingegen eines listigen Verstands.

Über ausreichend Verschlagenheit verfügt in der Homerschen Geschichte nur der willensstarke Odysseus, dem es gelingt, Kirke die Rückverwandlung seiner Getreuen abzupressen. Diese sind danach sogar allesamt schöner und anmutiger anzusehen als zuvor, aber von Dankbarkeit ist bei ihnen keine Spur erkennbar. Im Gegenteil, sie sind voller Wehmut und Klage über den Verlust des Glücks, ein Schwein zu sein. Vielleicht war es diese Stelle bei Homer, die den Philosophen der Nützlichkeit, John Stuart Mill, 1863 zu seinen berühmten Worten gereizt hatte, dass es besser ist, ein unzufriedener Mensch zu sein als ein zufriedenes Schwein; besser ein unzufriedener Sokrates als ein zufriedener Narr.

Auch für Adorno konnte der zivilisatorische Blick in der Schwein-Werdung menschlichen Glücks nur einen Sturz ins Unglück bedeuten. Vielleicht erscheint deshalb der Schritt zurück, zu animalischer Zufriedenheit, als eine Art Fluch. Doch weshalb verwandeln sich die Gefährten eigentlich ausgerechnet in Schweine? Vielleicht ist in der Figur der Kirke ein Echo der Fruchtbarkeitsgöttin Demeter vernehmbar, schließlich hatten bei deren Verehrung stets Schweine als Opfertiere gedient. Möglicherweise liegt dem Vermischungsverbot gerade die Ähnlichkeit der Gestalt und ihre fell- und federlose Nacktheit zugrunde. Oder vielleicht spielt auch die gustatorische Nähe des Inneren eine Rolle, schließlich ist schon oft auf den vergleichbaren Geschmack von Menschen- und Schweinefleisch hingewiesen worden. All diese Ähnlichkeiten könnten den Gegensatz zwischen dem am Boden schnüffelnden Schwein und dem aufrecht gehenden Menschenwesen verschärft haben. Dabei ist in modernen Zeiten ganz in Vergessenheit geraten, dass die altgriechischen Wörter für Schnüffeln und Vernunft einen gemeinsamen Ursprung haben. Was auch immer der historische Grund für die besondere Verwerflichkeit dieser Gestaltwandlung gewesen sein mag, später sind jedenfalls alle diejenigen, die sich illegitimer Lust hingegeben haben, als Schweine bezeichnet worden.

Die physischen, sozialen, ökonomischen, symbolischen und intellektuellen Beziehungen von Menschen zu Schweinen weisen eine ungeheure Fülle auf, die manchmal paradoxale Gegensätze umfasst und kaum jemals erschöpfend reflektiert werden kann. Dies bezeugen nicht zuletzt die mäandernden Gedankengänge Adornos. Was beispielsweise bei Schweinen als sprichwörtliche Sturheit bekannt ist, gilt beim verschlagenen Odysseus als Willensstärke: Der listige Einzelgänger verkörpert für den kritischen Theoretiker bereits das Prinzip des späteren kapitalistischen Wirtschaftens. Seine Vernunft ist die des Abenteurers, der, zu Weltreisen verdammt, Risiken eingeht, die dann aber letztlich auch seine Gewinne moralisch begründeten. Es ließe sich ergänzen, dass dafür im Sparschwein die Tugend der berechnenden Knausrigkeit eine Gestalt angenommen hat, deren Form physisch zerschlagen werden musste, damit der Schatz zum Vermögen werden konnte. Nun sind die wenigen verbliebenen, nicht zerbrochenen Porzellan-Schweine wertvolle Sammlerstücke geworden. Auch das Wort Porzellan geht letztlich auf das italienische Wort für Schweinchen zurück, porcellana.

Ob klein oder groß, Schwein zu haben gilt im Deutschen als Glück. Dies kann aber zunächst unglücklich machen. So erzählte mir einmal ein Imbissbudenbetreiber, dessen Franchise mittlerweile in einigen deutschsprachigen Städten überaus erfolgreich tierlose Wurstwaren und Laibchen vertreibt, dass er vor Jahren unvermutet den Schweinebetrieb seines Vaters geerbt habe, als er selbst schon lange vegan gelebt habe. Was tun mit den überlebenden Schweinen, die ihm in den Schoß gefallen waren? Er beschloss, die Schweine an Ort und Stelle glücklich leben zu lassen, bis sie an Altersschwäche sterben würden. Womit er nicht gerechnet hatte, war die Wut, die seine Entscheidung bei den anderen Bauern im Dorf auslöste. Einmal wurde ihm gar ein Stein durch das Fenster geschmissen, darum war ein Papier gewickelt, auf dem eine unmissverständliche Forderung zu lesen war: Bring deine Säue endlich um! Das Recht an Privateigentum schien die Dorfgemeinschaft nur bedingt zu interessieren. Das Blatt wendete sich unerwarteterweise, als das wichtigste Boulevardblatt des Landes über einen seiner »Nutzbefohlenen« berichtete, noch dazu in den höchsten Tönen. Wie sich herausstellte, handelte es sich offenbar um das größte und älteste Exemplar seiner »Rasse« in Mitteleuropa. Mit einem Mal war der junge Schweinebauer, der sich weigerte, dem natürlichen Lauf der Dinge zu folgen, der Held seines Dorfs, das es sonst noch nie zu nennenswertem Ruhm gebracht hatte. Er und die Schweine hatten am Ende Schwein gehabt.

Wut auf Schweine scheint kein gänzlich modernes Phänomen zu sein. Bereits bei mittelalterlichen Tierprozessen waren die Hälfte der Verurteilten Schweine gewesen. Die Ablehnung von Schweinefleisch, wie sie für Islam und Judentum charakteristisch ist, wird von der neueren Forschung auf Staatsbildungsprozesse im alten Ägypten zurückgeführt. Die Trockenlegung von Sümpfen für die Getreide- und Viehzucht setzte Zwangsmaßnahmen voraus. Die selbstgenügsame Einfachheit der Schweinehaltung durch Haushalte und Gemeinden stand diesem Ansinnen entgegen und wurde zum Sinnbild von Individualität und gemeinschaftlicher Unabhängigkeit. Als sich die politische Herrschaft Oberägyptens dreitausend Jahre vor unserer Zeitrechnung ausbildete, ging damit die Umwertung des Schweins als ehemaliges Symbol Unterägyptens einher. Mit den Schweinen war kein Staat zu machen. Sie wurden zum Inbegriff von aufmüpfiger Bösartigkeit. Mit dem Niedergang ihrer ökonomischen Bedeutung nahm ihr symbolischer Wert weiter ab. Sie wurden zunächst gemieden und dann mit Verboten und Tabus belegt. Einen Widerhall dieser Prozesse der Etablierung sozialer, kultureller und ökonomischer Macht findet sich auch in den Wertesystemen jüdischer und arabischer Hirt:innen und Nomad:innen. Später hatte nicht einmal Franz von Assisi Mitleid mit den allesfressenden Schweinen. Auch die Bibel hat Schweinegeschichten parat. Als Jesus einmal einen Mann, der von Sinnen ist, nach seinem Namen fragt, erhält er als Antwort: »Legion ist mein Name, denn wir sind viele.« Um den Einzelnen zu retten, verpflanzt Jesus die Vielheit in eine Schweineherde, die sich daraufhin ins tiefe Wasser stürzt. Schweine versprechen manchmal, uns bei Verstand zu halten. Sterben müssen sie in den meisten Geschichten trotzdem.

Die plebejische Vulgarität ihrer Physiognomie hat oft eine ästhetische Note, die die Schweine für Repräsentationszwecke ungeeignet erscheinen lässt. Nicht selten bilden sie symbolische Verbindungen zu Gegenökonomien. Während in der Prohibitionszeit illegale Speakeasys in den USA Alkoholausschank an standesgemäße Kleidung banden, war bei den großteils von Schwarzen Amerikaner:innen frequentierten Vergnügungsstätten klandestinen Charakters, den Blind pigs, davon nie die Rede.

Schweine erweisen sich als zutiefst nützlich, nicht nur als physische Körper, die misshandelt und verletzt, diffamiert und ausgebeutet werden, sondern eben auch für das Denken und das Erzählen. Auch dann, wenn sie aus der Rolle fallen, wie im eingangs erwähnten Bild kauziger Witzigkeit, als eine Ernsttaler Wildsau den steinhart gewordenen Staub gesellschaftlicher Verhältnisse aufwirbelte und mit einer komischen Pointe zum Vorbild kritischen Denkens wurde. Dabei ist es entscheidend, die konkreten Weltverhältnisse nicht aus dem Blick zu verlieren, innerhalb derer reale wie symbolische Schweine in Erscheinung treten. So hat das französische Pendant zur MeToo-Bewegung Tausende Frauen unter dem Schlagwort #balancetonporc vereint. Zu Deutsch: Verpfeif dein Schwein. In Frankreich handelt es sich bei der Adressierung als Schwein um den historisch etablierten Ausdruck für einen übergriffigen Mann.

Im Roman Hauptstadt (2017) des österreichischen Schriftstellers Robert Menasse hingegen kommt einem kleinen Schwein, das frei und herrenlos durch Brüssel läuft, die literarische Aufgabe zu, schwer Greifbares zusammenzuhalten, in diesem Fall die Idee einer Europäischen Union als begrüßenswerteste aller Höllen auf Erden. Im Verlauf der Geschichte treten Kräfte, Verwicklungen und Verflechtungen aller Art hinzu. Das Schwein erscheint dafür essenziell zu sein. Für den Autor ist es das einzige Tier, das als Metapher die ganze Breite menschlicher Empfindungen und ideologischer Weltbilder abdeckt, vom Glücksschwein bis zur Drecksau. Ein wesentlicher Gedanke seines Buchs über die unübersichtliche Hauptstadt einer Idee: Zusammenhänge müssen nicht wirklich bestehen, aber ohne sie würde alles zerfallen.

Biografie

lebt in Wien • Autor, Philosoph, Hochschuldozent

A 2022 ZOOPOLIS – Cohabitation Teil II, Innsbruck; Lifes, Hammer Museum, Los Angeles • 2021 Cohabitation, Arch+, Berlin

P Kohabitation, Koexistenz, Konvivialität: Tierstudien 22, Berlin 2022 (mit Jessica Ullrich u. a.) • Schwein und Zeit, Hamburg 2018, als Being and Swine: The End of Nature As We Knew It, Toronto 2020, als Révoltes animales, Paris 2022 • Donna Haraway, Das Manifest für Gefährten, Berlin 2016 (Nachwort) • Transcultural Modernisms, London 2013 (Mitherausgeber, Autor)